Donnerstag, 23. August 2018

Tänzerin im Licht

Jeder in der Zone kennt das Phänomen, auch wenn es noch nicht viele der Insassen gesehen haben.
An der Grenze steht eine Wand aus reinem, weißen Licht, die niemand von innen überwinden kann. Das Direktorat spricht in seinen Botschaften häufig davon, dass die Insassen durch das Licht gereinigt werden. Sie sollen auf diese Weise vorbereitet werden auf die ideale Gesellschaft, die nach dem Direktorat kommen wird. Aber die Zeit bis dahin ist noch lang und die Insassen haben sich längst von diesem Versprechen abgewandt.
Nur wenige wandern so weit abseits der Pfade, dass sie die Wand aus Licht sehen. Es gilt in diesen Zeiten als Fluch, zu sehr auf Vergebung von Entitäten jenseits der Menschlichkeit zu hoffen. Jene, die derart weit gehen, verbringen Stunden damit, in die endlose, weiße Weite zu blicken, und sich die Welt jenseits der Zone vorzustellen.
Draußen gibt es das Direktorat. Draußen gibt es noch andere Menschen. So viel lässt sich aus den Berichten der letzten Neuankömmlinge, die vor geraumer Zeit eintrafen, ableiten. Alles andere ist durch das präparierende Amnesieverfahren, das alle Insassen durchlaufen haben, ausgelöscht worden. Die allgemein akzeptierte Meinung ist, dass es einen Kampf gegeben hat und die Verlierer hierhergekommen sind. War es ein Kampf gegen das Direktorat? War es ein Kampf für das Direktorat? Die Wahrheit wird durch das weiße Licht verborgen.
Das Direktorat ist nicht grausam, wie es immer wieder in seinen Botschaften verkündet. Die Insassen leiden keinen Durst und keinen Hunger. Sie werden nicht von schmerzhaften Erinnerungen gequält. Sie existieren nur. Der ideale Zustand des Menschseins. Die Worte schmecken bitter im Mund, obwohl jeder vergessen hat, was Geschmack ist.
Das weiße Licht an der Grenze war bisher perfekt. Nicht einmal die Vorstellung von Dunkelheit konnte in seinem Angesicht überleben. Ein weiße Weite, so perfekt wie der erste Stern im Universum. Doch dies hat sich geändert. In der ganzen Zone hat sich etwas geändert.
Jene, die es gesehen haben, sprachen zuerst von einer ungewöhnlichen Störung ihrer optischen Implantate. Eine Fläche der Wand, die dunkler erschien als ihre Umgebung. Als mehr Insassen davon berichteten, wurde klar, dass es sich nicht um eine Störung handeln kann. Mit der Zeit gewann der Schatten an Form und wuchs in seiner Größe. Schließlich erkannte jemand den Schatten einer Frau, die sich im Licht bewegt. Er konnte nicht sagen, woher er wusste, was er sah. Niemand erinnert sich daran, was Frauen sind. Aber jeder stimmt mit ihm darüber ein, dass es sich bei dem Schatten um eine tanzende Frau handelt.
Auch kann keiner der Insassen sagen, was ein Tanz ist, doch eine große Aufregung hat sie ergriffen. Wenn das Licht an der Grenze nicht mehr vollkommen ist, was ist dann noch nicht mehr vollkommen? Die Zone? Das Direktorat? Manche haben Angst, manche sind aufgeregt. Niemand weiß, was geschehen wird. Doch die Zone wird niemals wieder dieselbe sein.

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